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Kategorie Feuilleton
Ausgabe SoSe07 - 6
Autor Johannes Temeschinko

Tags und ihr Gehalt öffentlicher Provokation

Tags? Diese Zeichen auf Wänden? Von drogensüchtigen Jugendlichen aus Langeweile hinterlassen. Die niedrigste Ausdrucksform, seitdem Menschen aufgehört haben in Ecken zu pissen. Oder mit den Köpfen ihrer Feinde die Grenzen des eigenen Stammgebiets zu markieren.

Ausgeführt von Kids, die zu dumm oder faul (oder beides) sind, sich ein richtiges Graffiti auszudenken? Die dafür auch keine Zeit haben, weil wieder Aktionswochen bei McDonalds sind und sie sich den neusten Scheiß von Nike kaufen müssen – neue DVDs, Games, Handytunes und Klingeltöne sowieso.

Aber wenn interessiert das? Es sind Kinder, und wer behauptet, er/sie sei in der Jugend nicht vollkommen bescheuert gewesen, ist es entweder immer noch oder belügt sich selbst all day long.

Was steckt dahinter, fremde Flächen mit seinem Alias zu bedecken? Quasi an, auf bzw. in das Fremde einzudringen und es mit seinem eigenem Nektar zu besudeln und damit zu vereinnahmen. Schlimmer als Tags sind lediglich die Denkfaulheit der scheinbar dazu berechtigten Kritiker und ein allgemeiner Konsens gegen alles Fremde auf der Wand.

Das Tag (eigentl. Anhänger, Etikett) stellt die Urform des Writing dar, wie es in den 1960er Jahren in New York – in Philadelphia geht ein Aufschrei durch die Gassen! – entstanden ist, und auch heute noch bildet das Tag, das i.d.R. der Aliasname des Writers ist, die Grundlage seines gesamten Schaffens. Dabei ist das Tag lediglich der nach außen hin sichtbare Teil einer ganz neuartigen Identität, in deren Sein der Inhaber sich nicht mehr an die ansonsten geltenden Gesetze und Moralvorstellungen zu halten hat. Er ist nicht mehr 'er' sondern wird zu PINK, DAZE, SUPERKOOL oder BARBARA 62.

„Er legt sich einen neuen Namen zu und eine neue Identität innerhalb einer Gruppe, die ihre eigenen Wertvorstellungen und Regeln hat,“ würde der Soziologe neben Dir sich ausdrücken.

Dass ein Name in der ganzen Stadt zu lesen ist, sorgt in erster Linie für eine quantitative Präsenz, womit jedoch noch nichts über die Qualität des Tags und damit den 'Style' seines Urhebers gesagt wird.

Ausgeführt werden diese Signaturen meist mit der Aerosollackdose oder Markern, die kleiner und daher leichter zu transportieren sind als Farbdosen. Mittlerweile lassen sich Tags aber auch mit Hilfe von umgebauten Feuerlöschern, Laserstiften oder Wasser anbringen – im letzteren Fall als sogenanntes reverse graffiti, bei dem der Name mit einem Schwamm in eine dreckige Oberfläche gewischt wird und bis zum nächsten Regen hält.

Trotz ihrer geringen Größe darf man Tags nicht als minderwertig abtun. „Gekonnte Tags können [...] in ihrer Wirkung und Aussagekraft locker mit Pieces konkurrieren“, sagt der minderjährige Writer-Fuzzi neben Dir.

Insofern scheint es nicht verwunderlich, dass sich ebenfalls in Deutschland die Mehrzahl der Writer für einen hohen Stellenwert der Tags ausspricht. Zum Beispiel unterstreicht einer der spätpubertären Vandalen die Verbindung zwischen den einzelnen Elementen:

„Wenn du die Tags weglässt, verleugnest du Graffiti. Das gehört zusammen: Pieces und Tags. Und wer das trennen will, gehört mehr zu den Kunstprofessoren, die sich mit 'Street-Art' beschäftigen.“ Persönlich würde ich eher von der Behauptung zurücktreten, dass Kunstprofessoren sich überhaupt mit Street-Art beschäftigen, doch der Satz zeigt, inwieweit Writer eine Abgrenzung zwischen ihrem Handeln und der 'offiziellen' Kunst sehen.

Tags sind die Signatur des Writers und sollten damit lesbar und originell zugleich sein, denn einerseits will der Verfasser mit seinem Signum über seine Existenz in der Stadt informieren. Andererseits sollte die besonders gelungene Ausführung darüber ein Urteil zulassen, inwieweit er/sie sich in ästhetischer Hinsicht bislang entwickelt hat. Dies bedeutet, dass Tags aus einfachen Druckbuchstaben bestehen können, aber auch als verschlungene und verschnörkelte Zeichen im urbanen Raum anzutreffen sind, die für das nicht eingeweihte Auge eine kryptische Chiffre darstellen.

Darüber hinaus jedoch bedeutet das Anbringen eines Tags die Neuorganisation einer Oberfläche, so dass ein vorher öffentlich existenter Raum in seiner ursprünglichen Form nicht mehr existiert. Je größer oder zahlreicher Tags auf einer bestimmten Fläche sind, desto stärker ist ihre Prägnanz zur Wahrnehmung des neu organisierten öffentlichen Raumes.

„Tags tell me their stories and, in doing so, make me a part of an invisible network in this city. This reinforces a feeling of affiliation with the people who share my love and passion for the cause. [...] I´m not alone.“ So REW, eine der ganz eifrigen Galionsfiguren aus Berlin, der fürs Schreiben seines Alter Ego auch in den Knast gehen würde. Man muss immer Prioritäten setzen.

Ab einer bestimmten Einheit von optischer Präsenz kann man davon ausgehen, dass diese nicht nur dem Eingeweihten die intendierte Aussage übermitteln, sondern auch dem Passanten, der zivilen Öffentlichkeit und nicht zuletzt den Organen der Exekutive eine – wenn auch anders geartete – Aussage entgegen bringen. Darin liegt wiederum die enorme Problematik der Tags.

Durch ihre schnelle Ausführung sind sie zahlreich in deutschen Städten präsent und prägen damit das Bild der bürgerlichen Öffentlichkeit gegenüber den Writern. Und diese sind i.d.R. nicht besonders aufgeschlossen gegenüber den fremden Zeichen, die sich in einem Akt der Selbstbestimmung überall dort ausbreiten, wo normalerweise das Recht des Privateigentums an erster Stelle steht.

Aus diesem Grund sind Tags unbeliebt bei Grundstückseigentümern, Wohnungsbaugesellschaften und Verkehrsbetrieben; sprich all jenen, die Graffiti ganz toll finden, wenn es sich auf Autokindersitzen oder Krankenkassenwerbung befindet. John Wayne sagte: „Wenn du das, was du hast, nicht beschützen kannst, hast du gar nichts.“ Das Tag ist nur der sichtbare Teil jener den Beschützerinstinkt offen legenden Impotenz, die dir offenbart wird, wenn ein Fremder deine Garage, deinen Zug, deine Supermarktfassade oder, im schlimmsten Fall, deinen Daimler mit seinem Signum an sich reißt.

Ein Tag bedeutet für den Nicht-Writer immer eine Bedrohung, denn neben dem ästhetischen Schock irgendwelcher Buchstaben auf der Wand, sagt ihnen das Tag: Ich bin hier. Der Staat, die Obrigkeit etc. konnte nicht verhindern, dass hier diese Sachbeschädigung begangen wird. Der unwissende Passant sieht‘s und denk sich: Wenn der Staat nicht für die Sicherheit in diesem urbanen Raum sorgen kann, dann kann er auch nicht für meine Sicherheit sorgen. Die Menschen sehen sich bedroht durch ein Zeichensystem moderner unverständlicher Hieroglyphen.

Denn es gibt kein Signifikat, das den 'leeren Totemismen', so der Soziologe Jean Baudrillard, zugeordnet werden kann. Der logische Schock einer Handlung ohne vermeintlichen Sinn geht weit über den erwähnten ästhetischen Schock hinaus. Tags sind urbane Zeichen mit aufgelöster Arbitrarität. Es hat keinen Sinn, hinter der reinen Formsprache noch etwas zu suchen; sie führen vor, dass es Aussagen ohne konsensuellen Sinn geben kann. Aufgrund dieser fehlenden Entschlüsselung wirken sie bedrohlich und sind daher unerwünscht.

Zusammenhängend mit der Ablehnung von Tags in der Bevölkerung muss der Aspekt der Motivation überdacht werden, sich als Angehöriger einer Subkultur bewusst von der Gesellschaft abgrenzen zu wollen. Somit erfüllen Tags zweierlei Funktion: eine ästhetische und eine soziale, die sich jedoch jeweils bei unterschiedlichen Rezipienten bemerkbar machen. Der damit einhergehende Autoritätsverlust von Eigentümern gegenüber einer fremden Macht ist wiederum nur eine Seite der Medaille, denn mittlerweile sind Tags zumindest partiell gesellschaftlich akzeptiert: bei Galeristen und besorgten Sozialarbeitern.

Die einen sehen darin nur eine weitere Masche, nach dem Tod der Kunst (von Können kommend) noch ‘ne Mark zu machen. Gefährlicher ist bei aller berechtigten Kapitalismuskritik jedoch die zweite Gruppe: jene Berufsjugendlichen, die vor einem aus ihrer Sicht scheinbar intellektuell minder bemittelten Publikum den verständnisvollen Macker raushängen lassen können. Die den pubertierenden Delinquenten mit ihrem Ich-bin-okay-du-bis-okay-Gesülze und wir-müssen-darüber-mal-reden-Quatsch wieder auf den Pfad der Tugend bringen möchten.

All diese Leute haben nicht begriffen, dass Tags nicht ästhetisch sein wollen und per se nicht sein können. Ihre Botschaft ist der Mittelfinger gegen alle ordnungspolitischen Bemühungen und Dreck-Weg- aka. Stadtputztage, an denen eine verlogene Allianz aus Lokalpolitikern und Kapitalbewegern zur Verschönerung des gemeinsamen Lebensraumes aufrufen. Danach dürfen sich im öffentlichen Raum keine visuellen Zeichen mehr aufhalten, die nicht in das Gesamtbild einer Konsumgesellschaft passen und jeder, der keine Plakatflächen, Busmonitore oder Stromkästen mieten kann, ist bei dieser Veranstaltung nicht länger erwünscht. Tags provozieren bewusst die Ablehnung aller anderen Menschen, die sich nicht eingeweiht fühlen, obgleich sie auch für denjenigen einen symbolischen Kampf um die Vorherrschaft über die visuelle Erscheinung des Stadtraumes führen, der sie nicht nachvollziehen kann. Am Ende also für uns alle.

Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Abschlussarbeit des Autors, die sich u.a. mit der Codierung des öffentlichen Raumes befasst.

Johannes Temeschinko