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Kategorie Politik
Ausgabe Exklusiv Online
Autor Fabio Reinhardt

Counting Crowds – Ein Bericht aus dem Pressezelt der wahrscheinlich längsten Datenschutzdemo der Welt

Diesen Samstag, den 11.10., fand in etwa 20 europäischen und einigen lateinamerikanischen Städten der weltweite Aktionstag „Freedom not Fear“ statt. Eine der Aktionen gegen die Unterwanderung der Demokratie durch Massenspeicherungen und für den Datenschutz war eine Demonstration in Berlin, wo bereits September 2007 ein etwa 10.000 Menschen starker Protestmarsch stattgefunden hatte. Die Veranstaltung, das kann bereits vorweggenommen werden, war ein überwältigender Erfolg und die größte Datenschutzdemo der letzten 20 Jahre, vielleicht sogar aller Zeiten.

 

Im Vorfeld fanden mehrere „Warm-Ups“ statt, einer davon am 27.09. in Braunschweig, organisiert vom AK Vorrat Braunschweig in Kooperation mit dem Referat für Neue Medien und Kommunikation der TU Braunschweig. Es gibt sicherlich zahlreiche Berichte, von denen einige sehr lesenswert sind. Aber ich möchte den Blick auf ein spezielles Problem lenken, welches ich bei meiner Arbeit im Pressezelt besonders gut mitbekommen habe.


Die Arbeit des Presseteams besteht vor allem darin, den verschiedenen Medien aktuelle Informationen zukommen zu lassen, mit den Redaktionen zu telefonieren und die Newsticker auf dem neusten Stand zu halten. Meine Aufgabe bestand unter anderem darin, den deutschen Newsticker ins Englische zu übersetzen. Doch bevor ich davon berichte berichte, will ich noch kurz erklären, welche Zielvorgaben sich das Organisationsteam im Vorfeld der Demonstration selbst gesetzt hatte: Die Hauptziele des Organisationsteams waren es, 1.einen möglichst friedlichen Protestablauf zu gewährleisten, 2.den Teilnehmern der Demo etwas zu bieten, damit sie zufrieden sind, sich gut austauschen können und selbst aktiv werden, 3.möglichst viele Teilnehmer auf die Straße zu bringen und damit für ein großes Medienecho zu sorgen, um Druck auf die Politik auszuüben.

Über die Punkte 1 und 2 lässt sich natürlich streiten. Wenn es Randalierer gibt, die unbedingt Chaos stiften müssen, wenn es Polizisten gibt, die provozieren, um damit die Message Demonstration mit Negativschlagzeilen zu vernebeln oder am besten noch beides zusammen, dann wird es auch dem besten Demoleiter nicht gelingen, einen komplett friedlichen Ablauf zu gewährleisten. Das ist diesmal sehr gut gelungen. Einige abstruse Situationen, bei denen vor allem die weithin für ihr streisüchtiges Verhalten bekannten Berliner Polizisten auffielen, konnten dank beherzten Einsatzes einiger Helfer entschärft werden.

 

Punkt 2 ist, denke ich, auch ganz gut gelungen, das aber müssen die Teilnehmer selbst entscheiden. Nur bei Punkt 3 gibt es am Schluss wenig Interpretationsmöglichkeiten; in der Presse wird sich eine Zahl finden. Diese sollte (nach Wunsch der Demoleitung) möglichst viele Nullen haben. Das sollte natürlich primär dadurch erreicht werden, dass man viel Werbung und eine gute Pressearbeit im Vorfeld der Demonstration macht. Natülich darf man über dem Blick auf die Zahl nicht die Inhalte und nicht die Menschen auf der Demonstration vergessen. Aber: Kein Veranstalter will 10.000 Menschen auf die Straße bringen und dann über 500 Menschen in der Presse lesen. Mit der Zahl steht und fällt für alle, die nicht selbst dabei waren, ihr ganzes Bild von der Veranstaltung. Und ob diese abgedruckte dann auch wirklich die korrekte Zahl ist, darauf kann man natürlich nur bedingt Einfluss nehmen. Aber dafür gibt es ja dann das Presseteam.


Das interne Ziel war eine Größenordnung von 50.000 bis 100.000 Teilnehmern gewesen. Ein Bericht über das Erstellen des Fronttranspis in Salzwedel war auch unter dem Titel „Malen für 100.000“ erschienen. Allerdings waren von uns natürlich längst nicht alle überzeugt, dass diese Zahlen wirklich realistisch waren. Schon das Wetter hätte diesen Vorsatz zur Makulatur verdammt. Und gerade die Zahl von 2.000 Demonstranten im letzten Jahr, die einige Medien fälschlicherweise von der Polizei zu übernahmen, ließ unsere Zielvorgabe als gewaltig erscheinen. Allerdings gab es diesmal auch wesentlich mehr Pressearbeit, wesentlich mehr Unterstützergruppen (insgesamt 117 Organisationen), ein Jahr mehr Erfahrung und eine längere Anlaufzeit. Trotzdem machten wir uns auf alles gefasst – die Vordemos waren auch eher moderat ausgefallen. Die Polizei ging im Vorfeld von etwa 30.000 Teilnehmern aus.

Der Beginn der Demonstration war für 14 Uhr angesetzt worden, wo auf dem Alexanderplatz die Redebeiträge beginnen sollten. Bereits um 13.45 Uhr war auf dem Ticker eine Anzahl von 1500 Menschen am Alexanderplatz vermerkt worden, der auch tatsächlich noch sehr leer wirkte. Als ich gegen viertel nach zwei am Pressezelt am Brandenburger Tor, dem Zielort der Demonstration ankam, sah ich bereits die aktuelle Zahl von 3000 Teilnehmern. Während ich erst einmal eine Weile bei der Betreuung des Infostandes aushalf, gingen wir daher bereits von einem zahlenmäßigen Rückschritt aus und bereiteten uns innerlich bereits auf eine Diskussion über ein Überdenken des Konzepts vor.

Als ich jedoch gegen viertel vor drei in das Pressezelt zurückkehrte wurden erfreulicherweise bereits 15.000 Menschen gemeldet. Gegen kurz nach drei endeten die ersten Redebeiträge, der Demonstrationszug begann sich zu formieren und in Bewegung zu setzen. Die DPA-Meldung, in der von „mehr als tausend Menschen“ die Rede war, war zu diesem Zeitpunkt jedoch schon von einigen Medien übernommen worden.
Welt Online titelte um 14.46 Uhr „Mehr als 1000 Menschen haben sich am Samstagmittag auf dem Alexanderplatz in Berlin-Mitte zu einem Protest gegen Datenspeicherung versammelt.“ Ebenso der Tagesspiegel um 15 Uhr. Zwar wurde der Titel später noch abgeändert in das deutlich positivere „Tausende Menschen demonstrieren gegen Überwachung“. In Google.News wird der Artikel aber immer noch unter seinem ursprünglichen Namen „Über 1000 Menschen demonstrieren gegen Überwachung“ aufgeführt.

 

Schon zu diesem Zeitpunkt war jedoch offensichtlich, dass sich hier etwas ganz Großes anbahnte. Der Abmarsch der Teilnehmer vom Alexanderplatz (auf der Karte rechts) gestaltete sich nämlich als schwierig. Die Spandauer Straße zwischen Mühlendamm und Karl-Liebknecht-Straße, auf der sich die Teilnehmer sammeln sollten, und die die Polizei im Vorfeld mit einem Fassungsvolumen von 40.000 Menschen angegeben hatte, reichte nicht aus, um alle Teilnehmer zu fassen. Und der Alexanderplatz war zu diesem Zeitpunkt immer noch voller Menschen. Folgerichtig korrigierte die Demonstrationsleitung ihre Zahl nach oben. Um 16.15 wurde offiziell erklärt, dass sich 50.000 Teilnehmer dem Reichstag näherten. Es wurde aber auch betont, dass die Zahl noch weiter steigen könne. Die Polizei korrigierte auf 15.000, die meisten Medien änderten ihre Zahlen jedoch nicht extra, die neuen Berichte übernahmen die 15.000 der Polizei. Die Ereignisse überholten jedoch wieder die Meldungen. Das Fassungsvolumen der Scheidemannstraße, die vor dem Reichstag verläuft, wurde von Ver.Di mit 120.000 Menschen angegeben. Als der Demozug den vorderen Punkt erreicht hatte, war jedoch das letzte Viertel noch gar nicht auf der Scheidemannstraße angekommen.

Diese Nachricht sorgte natürlich für Begeisterung im Pressezelt. Sollte man nun eine Pressemitteilung verfassen, in der von 150.000 Menschen die Rede war? Diese hätte vermutlich zu unglaubwürdig geklungen aufgrund der geringen Anfangszahlen. Und das obwohl die Informationen sicher waren. Man einigte sich also um 17.00 Uhr auf eine Tickermeldung, in der von 100.000 Teilnehmern die Rede war, deren Spitze sich gerade dem Brandenburger Tor näherte. Da die Polizei jedoch nicht nachzog und weiterhin stur von 15.000 sprach, wurde dies auch gegen 17.30 Uhr noch in einer Pressemitteilung kritisiert. Die schier unglaubliche Zahl von 100.000 Menschen war zwar von uns tatsächlich in den kühnsten Träumen nicht erwartet worden – das hieß ja nun aber nicht, dass sie nicht richtig war. Auch die Teilnehmer waren begeistert, als sie diesen Umstand von der Bühne aus erfuhren. Die Veranstaltung neigte sich dem Ende zu und gegen Ende des Tages räumten die Polizei dann zumindest noch 30.000 Teilnehmer ein. [Edit: Ich habe gerade erfahren, dass der Verbindungsbeamte der Polizei schon am Nachmittag wiederholt von 50.000 Teilnehmern berichtet hatte. Und auch die meisten anderen Beamten vor Ort haben das so empfunden und kommuniziert. Nur wurde diese Zahl leider nicht von der Pressestelle der Polizei übernommen. Einen Bericht dazu gibt es hier.]
Dies kam jedoch zu spät und führte kaum noch zu Veränderungen in der Berichterstattung. Auch in der Tagesschau wurde dann doch wieder die Zahl 15.000 genannt. Zumindest aber gab es überhaupt eine Erwähnung der Demo – im letzten Jahr nämlich war sie noch komplett ignoriert wurden.


Mein persönliches Fazit, was die Zahlen angeht, ist durchwachsen. Ich bin enttäuscht, dass der Großteil der Medien die nach oben korrigierten Zahlen nicht übernommen hat und das sich bei einigen die irreführenden und anangebrachten Begriffe "Mehr als tausend" oder auch "Mehrere Tausend" gehalten haben. Einige Medien waren so fair und berichteten zumindest, dass es mindestens 15.000 Teilnehmer waren, die Veranstalter jedoch von bis zu 100.000 Teilnehmern sprachen. Es wurde im Nachhinein im AK Vorrat beschlossen, sich nicht allzusehr auf die Streitereien um die Zahlen einzulassen. Zwar gebe es Belege und Zeugenaussagen die die mehr als hunderttausend Teilnehmer belegen, aber das werde wohl kaum noch etwas an dem kolportierten Bild ändern. Der Fokus sollte doch wohl darauf liegen, sich über die gelungene Aktion zu freuen, sich an die Aufbereitung der Inhalte zu machen und die nächsten Aktionen zu planen. Es könnte natürlich seitens der Organisatoren auch die Konsquenz gezogen werden, sich nicht allzu früh auf Zahlen festzulegen. Aber einer DPA-Meldung, die ja möglichst früh erscheint, auf den Zahlen der Polizei basiert und dann von so gut wie allen anderen Medien übernommen wird, steht man als Veranstalter im Grunde machtlos gegenüber. Ein bisschen mulmig wird mir bei dem Gedanken daran, dass sich ja gerade Diktaturen und repressive Regime typischerweise besonders darin auszeichnen, oppositionelle Bewegungen und Proteste kleinzureden, damit ihre Legitimität nicht unnötig in Zweifel gezogen und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Masse nicht gestört wird. Dergleichen sollten wir in der Bundesrepublik eigentlich nicht nötig haben.