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Kategorie Internationales
Ausgabe WS0708 - 7
Autor Ingo Eichler

Mein Peking-Sommer

Drei Monate Praktikum in Chinas Hauptstadt

 

Beijing drückt. Die Luft kann man schneiden, die Gerüche auf den Strassen sind extrem stark und wechseln mit jedem Meter, und das Gewühl in Kaufhäusern ist ähnlich dicht, zügellos und regelfrei wie auf den Straßen und Gehwegen. Das Nervenkostüm des ahnungslosen Europäers wird hier im Sekundentakt durch Angriffe unterschiedlichster Art penetriert. So hatte ich anfangs akute Schwierigkeiten, schreiend grelle Farben von Plakaten, Leuchtreklamen und mit LEDs vollgekleisterte Autos, gleichzeitige Hupsignale aus allen denkbaren Richtungen, lauthals ihre Ware anpreisende Verkäufer sowie eine unvorstellbare Geruchsmelange unter einen Hut zu bringen. Sobald das dann aber gelingt, bereitet das Observieren des Alltagswahnsinns große Freude und offenbart sich als schier unerschöpfliche Quelle der Unterhaltung. Diese begann zumeist schon mit dem Weg zur Arbeit.

Es gibt in Peking vereinzelt Buslinien die überschaubare Mengen an Passagieren transportieren, was ich als Zeichen dafür werte, dass es auch anders geht. Der Regelfall ist allerdings ein bizarres Maß an Ignoranz gegenüber dem Fassungsvermögen der Busse. Wenn ein Bus an einer Haltestelle zum Stehen kommt, fallen nach dem Öffnen der Türen diejenigen Passagiere hinaus, die nur durch die halb geschlossenen Türen drinnen gehalten wurden. Gemeinsam mit den zuvor Herausgefallenen springt man dann gegen die Menschenmenge im Bus, um so möglicherweise in eine Lücke zu rutschen und im Bus Platz zu finden. Ist dies geschehen, versucht man die Fahrt nur noch zu überstehen ohne durch Rippenstöße, Atemnot oder das hysterische Geschrei des Fahrers all zu stark beschädigt zu werden.

Mit einem nervös zuckenden Augenlid gelangte ich somit zumeist auf der Arbeit an, freute mich in Anbetracht der häufig über 40 Grad rangierenden Temperaturen über die Klimaanlage und die Ruhe im Gebäude und machte mich erleichtert an meine Aufgaben. Mein Tätigkeitsgebiet war angenehm breit gefächert und ließ somit keinen Platz für Monotonie oder Desinteresse. Auch wenn mein Chinesisch bis zuletzt nicht genügte, um wirklich gescheite Gespräche zu führen, waren meine Kollegen immer redlich darum bemüht, mich in Konversationen zu irgendwelchen trivialen Themen einzubinden. Unter allen Mitarbeitern war meine Kollegin Kim als eine der einzigen des Englischen mächtig und brachte mir in ihrer ebenso mütterlich besorgten wie auch abgebrühten Art neben Chinesisch auch Bus fahren und Rikschafahrer beschimpfen bei. Der größere Teil der Belegschaft war mit durchschnittlich Ende zwanzig noch relativ jung und benahm sich nicht selten wie ein Haufen betrunkener Teenager. Das Arbeitsklima gestaltete sich dementsprechend entspannt, und Entspannung kam mir nach dem allmorgendlichen Überlebenskampf auf dem Weg zur Arbeit sehr gelegen.

Das Mittagessen in der Kantine unterlag einer unkalkulierbaren Varianz: so manches Mal war das Essen einfach himmlisch, und so manches andere Mal blieb mir als Vegetarier nichts anderes übrig, als an irgendwelcher optisch misslungenen und geschmacklich die Menschenwürde angreifenden Pampe zu würgen. Das sehe zumindest ich so; nicht selten fuhr sich ein Speisender am Nebentisch zu meinem blanken Schrecken die genannte Schauderpampe unter Genusslauten und mit sichtbarer Freude rein. In deutschen Kantinen und Mensen gestaltet sich die Situation ähnlich, weshalb sie von mir mittlerweile als universell gültige Regel aufgefasst wird, und nicht etwa als kulturspezifischer Unterschied.

Apropos Kultur: Neben den obligatorischen Ausflügen zur Großen Mauer, in die Verbotene Stadt, zum Sommerpalast und dergleichen mehr genoss ich es besonders, durch die vielen historischen Hutongs im antiken Baustil zu flanieren. Auf diesen Wanderungen durch die engen Gassen der Hutongs fühlte ich mich tatsächlich nicht selten um einige hundert Jahre in das alte China zurückversetzt, wenn mir eine Hausfrau unvermittelt von ihrer Haustür aus das Waschwasser vor die Füße kippte, alte Männer abends auf einem schäbigen kleinen Tischchen Mahjong spielten oder über schmalen Steinwannen mit glühenden Kohlen Essen grillten. Besonders in den Hutongs jedoch und dort besonders dann, wenn man sich eines fernab der Touristenströme ausgesucht hat, wird man angestarrt, als hätte man Leuchtreklame im Gesicht. Mit der Zeit ist man zwar an diese Form des Spießrutenlaufs gewöhnt, aber wenn die Starrenden dafür ihre Gespräche unterbrechen oder gar beim Kauen innehalten, bekommt das ganze eine neue, nicht immer angenehme Qualität. Einige von den durch Ausländerpräsenz Überraschten machen sich dann sofort auf die Suche nach etwas, das sie einem verkaufen könnten. Wenn schon ein Westler greifbar ist, dann muss das auch genutzt werden. Die sind schließlich allesamt steinreich.

Man ist im Grunde genommen gerne bereit, über all die Strapazen und Alltagshindernisse hinwegzusehen, zumal die hiesige Erlebnissphäre einen dafür entschädigt. Aber genau darin besteht die meiner Ansicht nach größte Gefahr in diesem Land, und sie lauert im Indirekten.

Es ist die schleichende Macht des Wegschauens. Dazu nur ein kleines Beispiel:

Als ich auf einem nächtlichen Streifzug an den Hauptbahnhof gelangte, sah ich auf dem gigantischen Steinplatz davor etwa 1500 Menschen auf der Erde liegen und schlafen. Es handelte sich dabei um Tagelöhner, die für eine Woche Arbeit auf Baustellen hatten, wo sie auch schliefen. Auf den Gerüsten. Nunmehr zogen sie heimwärts, konnten aber aufgrund des immensen Andrangs erst für den übernächsten Tag buchen und warteten daher geduldig zwei Tage lang auf dem Vorplatz. Im Sommer ginge das ja noch, wurde mir erklärt, richtig schlimm sei es erst bei Minusgraden. Aber das sei eben so, warum die wertvolle Aufmerksamkeit an derlei Details verschwenden?

Irgendwann gewöhnt man sich an den Rhythmus dieser Stadt und an ihre Eigenheiten und passt sich nach anfänglicher Depression daran an. Tut man das nicht, wird auch die Depression nicht verschwinden. Die Anpassung besteht allerdings in erster Linie aus einer deutlich eingeschränkten, selektiven Wahrnehmung. Man gewöhnt sich so sehr daran, Dinge auszublenden, dass die Regierung und andere Meinungsmacher ein gefährlich leichtes Spiel damit haben, ihre Form der Wahrheit durchzusetzen und der Bevölkerung somit beispielsweise zu verkaufen, dass trotz des immensen Haushaltsüberschusses kein Geld für soziale Investitionen übrig sei.

„China – entweder man liebt es oder man hasst es“ hört man es häufig verlauten. Ich kann diese Floskel nicht bestätigen. Dieses Land gibt mir keinen Grund, es zu hassen, aber um es aus ganzem Herzen zu lieben, müsste sein Charakter weniger dunkle Flecken haben. Aus der Perspektive meines Lebens als Pekinger auf Probe könnte ich nicht umhin, meiner Sympathie für Stadt und Land das größere Gewicht beizumessen. Ich habe die Chinesen bis auf sehr wenige Ausnahmen als ausgesprochen freundliche und direkt liebenswerte Menschen kennen gelernt, bis auf wenige Ausnahmen schlicht herausragend gutes Essen konsumiert und Orte von großer Imposanz und beachtlicher Schönheit besucht, und ich kann und möchte mich insofern nicht gegen meine Begeisterung wehren. Aber ich darf dabei nicht vergessen, dass ich ein verwöhnter und von den Chinesen aufgrund meiner Herkunft geachteter und bewunderter (und auch nach Möglichkeit ums Geld beschissener) Europäer bin. Klar fühlt man sich wohl, wenn man überall Sonderrechte genießt. Wenn man sich in ruhigen Momenten ein wenig sensibilisiert und umschaut, sieht die Sache ein wenig anders aus. Ohne das Makeup fehlen Chinas Antlitz überwiegend die weichen und angenehmen Züge.

Europa und darin vor allem mein Heimatland betrachte ich jedenfalls mittlerweile aus einer etwas anderen, nüchternen Perspektive. Ob ich imstande sein werde, den deutschen Luxusproblemchen so gelassen zu begegnen, wie ich es mir jetzt ausmale, wird sich noch zeigen müssen, aber ich weiß, dass Deutschland von China aus gesehen in vieler Hinsicht eine Art Schlaraffenland ist. Und ich weiß, dass mein Interesse an China durch meinen Aufenthalt nicht etwa befriedigt, sondern erst richtig beflügelt wurde.

Ingo Eichler