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Kategorie BUZe kontrovers
Ausgabe WS0708 - 7
Autor Martin Försterling

Her mit dem Atomstrom!

Tschernobyl, Atompilz, Radioaktivität, Leukämie, Endlagerung, Vattenfall, Castor – die Liste der pejorativ besetzten Schlagwörter zum Thema Kernenergie ließe sich lange fortführen. Die Kettenreaktionen in der liberalen, grünen Öffentlichkeit sind dabei heftiger als jene in den Reaktoren selbst. Die morbide Faszination Super-GAU sickerte dank Gudrun Pausewangs „Die Wolke“ (1987, im Fahrwasser Tschernobyls) in den Deutschunterricht und hat es 2006 sogar, pünktlich zur großen Atomdiskussion, ins Kino geschafft. Dank der signifikanten Auswirkung auf Mensch und Umwelt beim größten anzunehmenden Unfall und den offenen Fragen zur Endlagerung ist die Kernenergie seit jeher so umstritten wie Abtreibung und Gentechnik, Sterbehilfe und Stammzellenforschung. Lediglich die Bugwelle der Erderwärmung, der Al Gore’schen Weltuntergangsmahnerei und des CO2-Ablasshandels gewährt der Atomenergie wieder einen gehörigen Auftrieb aus den seichten, fauligen Wassern der öffentlichen Rezeption. Während das Uran lange Zeit den schwarzen Peter des hässlichsten und gefährlichsten Speisers unser aller Steckdosen innehatte, hat der Klimawandel mit spitzen Fingern die Spielkarten neu verteilt – und dem Dreigespann Kohleölgas die Narrenkappe aufgesetzt.

Nachdem das schwedische Nobelpreiskomitee Al „Cassandra“ Gore nun auch offiziell zum Verkünder und Propheten dieser Generation krönte, muss es mittlerweile auch dem letzten klar sein: die globale Erderwärmung ante portas. Beziehungsweise, sie hat schon einen Fuß in der Tür. Einen mächtig heißen Fuß. Der brennt. Geboren hat sie letztlich die Verbrennung fossiler Energieträger, namentlich Kohleölgas. Der belustigende Aspekt dieser Entwicklung ist, dass all jene Umweltfreunde, die stets die Kernenergie verteufelten und den Ausstieg einklagten, nun aufgrund der Klimamodelle und -vorhersagen die Atomkraft umarmen müssten.

Doch eigentlich will der aufgeschlossene Bürger, der Bio-Eier bezieht und nur Stoffeinkaufsbeutel verwendet, beides: Weg mit dem bösen CO², weg mit der bösen Kernenergie. Sofort. Alles muss sich ändern. Sonst ist es zu spät. Es ist fünf vor zwölf. Das muss doch jedem klar sein. Klar ist nur eines: während Kohle- und Gaskraftwerke bei der Energiegewinnung zwangsläufig CO² ausstoßen müssen, arbeiten Kernkraftwerke CO²-neutral. Natürlich (das ist ein beliebtes, aber kurzsichtiges Argument) wird bei der Uranförderung und -beschaffung CO² erzeugt – aber Kohle und Gas wachsen auch nicht in Bottrop auffem Baum. Aufgrund der geringen Energiedichte ist die Transporteffizienz bei fossilen Energieträgern erheblich kleiner als beim Uran. Zwar wird der Uranbergbau in nicht allzu ferner Zeit an Grenzen stoßen, die die Förderung unwirtschaftlich werden lassen, doch bezieht sich das laut neusten Schätzungen auf eine Zeitspanne von 30 bis 200 Jahren. Dessen ungeachtet ist und bleibt Uran (vorerst) billig, weil im Kalten Krieg große Mengen davon gewonnen wurden. Die Sicherheit der Atommeiler ist in den Industrieländern auf einem sehr hohen Standard, und seit dem Ausreifen der Technologie und ihrem kommerziellen Einsatz geht von Atomkraftwerken keine größere Gefahr aus als von anderen industriellen Anlagen. Die langen Schatten von Tschernobyl und Kyschtym sollen hierbei eindringlich verdeutlichen, welcher qualitative Unterschied zwischen dem verantwortungslosen Umgang der Ex-Sowjetunion und den hohen Auflagen und Sicherheitsvorkehrungen der westlichen Welt besteht. So hat z.B. der schwerste Atomunfall der USA 1979 auf Three Mile Island gezeigt, dass das ausgereifte Kraftwerksdesign selbst bei einem schweren Unfall keine Strahlung an die Umgebung zuließ. Auch wurde niemand verwundet oder getötet. Davon abgesehen stehen wir bei ansteigender Verankerung von Solar- und Windenergie im Stromnetz vor einem organisatorischen Problem: Verlässlicher, zu jeder Tageszeit vorhandener Strom kann aufgrund natürlicher Schwankungen durch Wind und Sonne nicht sichergestellt werden. Deshalb muss eine Basisstromversorgung existieren, die auf fossilen Brennstoffen fußt – oder eben auf Atomenergie. Wie viele andere kluge Menschen hat z.B. Patrick Moore, Mitbegründer und ehemaliger Präsident von Greenpeace und früher entschiedener Atomkraftgegner, angesichts der Erderwärmung und ihrer Konsequenzen seine Meinung geändert und empfiehlt Kernenergie, um Kohlekraftwerke abzulösen. Umweltwissenschaftler James Lovelock, Mitbegründer der Gaia-Theorie, stößt in das gleiche Horn, ebenso Stewart Brand, Autor des Whole Earth Catalog. Keinesfalls gibt es eine geschlossene Front der Umweltschützer gegen Kernkraft; immer mehr differenzieren sich die Ansichten, wie unsere Umweltprobleme am besten angegangen werden können. Und anstatt eine Reihe unrealistischer, sich widersprechender Punkte auf ihren Wunschzettel zu schreiben, sollte die Öffentlichkeit sich darüber im klaren sein, dass Atomausstieg und CO²-Verminderung gleichzeitig genauso wenig funktionieren können wie Orangensaftdiät und Marathonteilnahme. Es ist an der Zeit sich einzugestehen, dass uns die Felle langsam davon schwimmen und die segensreichen Alternativen noch lange nicht in signifikanter Masse eingesetzt werden können (Gezeiten-, Geothermie-, Osmosekraftwerk, Brennstoffzelle) oder gar noch wie Science Fiction klingen (Kernfusion).

Also? Her mit dem Atomstrom! Nichts da mit Ausstieg! Um den CO²-Ausstoß hier und heute in den Griff zu bekommen, ist Kernenergie sehr wohl ein probates Mittel. Es ist eine kurz- und mittelfristige Lösung, die ehrgeizigen Klimaschutzziele zu erreichen, die sich Deutschland und die EU gesteckt haben. Bis alternative Energiegewinnungsmethoden so effizient, so billig und so zuverlässig sind, unsere Kohlemeiler und Schnellen Brüter abzulösen, brauchen wir einen möglichst CO²-neutralen Strommix. Der Ausstieg aus der Kernenergie zur jetzigen Zeit, in der jetzigen Situation wäre paradoxerweise ein tieferer Schnitt ins Fleisch der kommenden Generationen als der Verbleib. Trotz der Fragezeichen hinter dem Wort „Endlagerung“.

Es ist weder Zynismus noch Polemik, was man zum Streit um die Kernenergie aussprechen sollte: Die Gegend um ein Endlager kann man evakuieren. Die Atmosphäre wohl eher nicht.

Martin Försterling

 


Weg mit dem Atomstrom!, entgegnet Johannes Gütschow in der BUZe 04/07.

 

Rückendeckung bekommt Martin Försterling von unserem StudiVZ-Gastautoren Tobias Schwarz.