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Kategorie BUZe kontrovers
Ausgabe Exklusiv Online
Autor Tobias Schwarz

Warum wir Kernkraftwerke in Deutschland brauchen

So mancher denkt vielleicht: Kernkraftwerke hätten überhaupt keine Nachteile, wenn sie nicht explodieren oder schmelzen könnten und keine radioaktiven Abfälle produzierten. Diese Meinung mag mittlerweile landläufig vertreten sein, entspricht aber wie so oft nur der halben Wahrheit. Man könnte jetzt mit einem "breiten Energiemix" argumentieren, der so viele Primärenergieträger wie möglich zur Stromproduktion heranzieht. Man könnte auch Vorteile für den Kampf gegen den Klimawandel anführen. Dies wäre sicher ein Mittel zum Zweck, jedoch wird der Mensch durch eine erhöhte CO2-Konzentration in der Luft genauso wenig sterben wie durch die im Boden endgelagerte Radioaktivität aus der Kernspaltung. Zudem hat das Argument nichts mit der eigentlichen Furcht zu tun, die von der Stromerzeugung mit kerntechnischen Anlagen ausgeht. Ein Punkt dabei ist die Herstellung von Bombenmaterial. Letztlich kann eine regierungsunterstützte Gruppe aber immer an die Bombe kommen. Vielleicht würde Russland sogar eine seiner vielen Bomben abgeben, wenn der Preis stimmt? Aus diesem Grund als westlicher Staat mit der Kernenergie aufzuhören, ist jedoch absurd.


In westlichen Leichtwasserreaktoren geht das einzig betriebsrelevante Risiko für schwere Störfälle von einer Kernschmelze aufgrund nicht abgeführter Nachzerfallswärme aus. Reaktivitätsexkursionen und bombenähnliche Explosionen à la Tschernobyl sind auslegungsbedingt ausgeschlossen (1). Die Konstruktionsfehler des in Tschernobyl verwendeten Reaktortyps waren gravierend, und der Reaktor ist von einer prolieferationsresistenten (Plutoniumextraktion für Kernwaffen erschwert) und seriöser Kerntechnik weit entfernt, was dem Ansehen der Kernenergie sehr geschadet hat.
Die Stromerzeugung mit kerntechnischen Anlagen deshalb in Deutschland aufzugeben, ist daher unsinnig, da die technischen Voraussetzungen grundlegend andere sind. Es wäre eine Farce, auf deutsche Kernkraft zu verzichten, und dann womöglich einen Teil des Stroms aus dem Osten zuzukaufen.

In punkto Kernschmelzen geht es bei Leichtwasserreaktoren nicht darum, die Wahrscheinlichkeit für einen Unfall auf 0 zu senken – dies ist unmöglich. Auch die Geschichte vom „kernschmelzfesten Sicherheitsbehälter“ ist ein Ammenmärchen, da es einen solchen nie gab und nie geben wird. Es geht vielmehr darum, die Auswirkungen eines solchen Störfalls zu beherrschen und die Gefährdung durch großflächige Schmelzeabkühlung im Reaktorgebäude allein auf das Containment zu beschränken (In Harrisburg kam es nicht einmal soweit, da die Kühlung anlief, bevor der Reaktordruckbehälter schmelzen konnte). Sollte ein solch extremer Störfall selbst einmal alle 20 Jahre vorkommen (und dieser Wert ist auch in Anbetracht menschlicher Fehleingriffe sehr hoch angesetzt, da der statistische Wert bei den momentan ca. 400 global laufenden Reaktoren bei etwa einmal pro 100 Jahre liegt), ist eine Kühlung durch mehrere redundante und diversitäre Systeme gegeben, und der Weltuntergang bleibt aus. Selbst wenn diese Systeme fehlschlagen, sind wir nicht hilflos. Die Einleitung von Maßnahmen ist auch von außen möglich, dafür bleiben nach einem Störfall etwa drei Stunden Zeit. Solange bleibt der Sicherheitsbehälter intakt. Danach bleibt etwa ein Tag Zeit, um die Kühlung der ausgelaufenen Schmelze im Containment durch externes Wasser sicher zu stellen und ein Durchschmelzen des Betonfundamentes zu verhindern.

Zur Radioaktivität: Für den Zerfall von Natur-Uran (2) müssen zehn (Uran235)- bzw. 13 (Uran238)-Zwischenprodukte durchlaufen werden, bis ein stabiler Kern (Blei) erreicht werden kann. Aufgrund des überwiegenden Vorkommens von Uran238 zu 99,3% in der Natur könnte man die integrale Anzahl natürlich ablaufender Kernzerfälle auf ca. 13x der Anzahl aller auf der Erde befindlichen Uranatome runden. Dieser Radioaktivität sind wir rund um die Uhr ausgesetzt, ob wir wollen oder nicht. Dazu kommen alle Thorium-Vorkommen mit neun Zwischenprodukten bis zum stabilen Blei. Derartige in der Erde enthaltene natürliche radioaktive Stoffe sind sehr weit verbreitet. Würde man im heimischen Garten eine Fläche von 10 x 10 Metern mit einer Tiefe von 20 cm ausgraben, hätte man dabei 100 Gramm Uran bewegt.
Dies zeigt, dass Radioaktivität keineswegs „böse“ oder unmittelbar tödlich ist, sie ist vielmehr allgegenwärtig, und bisher konnten wir damit offensichtlich alle gut leben. Uran kommt somit auch unweigerlich mit Grundwasser in Berührung. Natürlich enthält auch die Abfallschlacke von Kohlekraftwerken erhebliche Urananteile und Zerfallszwischenprodukte wie z.B. Radium oder Polonium.
Aber auch in Ziegelsteinen von Häusern ist einiges an Uran enthalten. Ein Zwischenprodukt der Zerfallsreihe, Radon, ist gasförmig und verflüchtigt sich aus den Mauern. Wer also radioaktiver Strahlung konsequent aus dem Weg gehen möchte, sollte sich möglichst selten in seinen eigenen vier Wänden aufhalten, um kein Radon einzuatmen. Den Garten hatten wir ja bereits ausgeschlossen.
Die Strahlenbelastung durch Einatmen von Radon und seiner Folgeprodukte macht knapp die Hälfte der natürlichen Strahlenbelastung aus. Radioaktivität ist aus objektiver und wissenschaftlicher Sicht also natürlich, allgegenwärtig und bei weitem nicht so problematisch, wie medial – beispielsweise während des Störfalls von Forsmark – immer wieder suggeriert wird.

Das zeigt, wie viel Unwahrheit und Unwissen zum Thema Kerntechnik publiziert wird, denn es möchte ja jeder mitreden. Wie aber soll der normal gebildete Bürger über die komplexen Zusammenhänge im Bereich der Kernenergie Bescheid wissen, wenn er aus den Medien derart unqualifiziert informiert wird und dies auch noch für bare Münze nimmt? Egal ob pro oder contra, es werden zu viele Halbwahrheiten so hingedreht, dass sie in die eigene Meinung passen. In der Kerntechnik vor allem dann, wenn das erforderliche technische und physikalische Hintergrundwissen fehlt.

Fakt ist aber der, dass durch wassermoderierte Kernreaktoren prinzipiell keine Menschen zu Tode kommen. Ob es einem Sigmar Gabriel auch tatsächlich darum geht, bezweifle ich. Die wegen der Stillegungen der Kernkraftwerke zu ersetzenden Strommengen ab 2020 werden nämlich keineswegs hauptsächlich durch erneuerbare Energien ersetzt. Dies wäre auch für viele Kernenergiebefürworter wünschenswert, ist aber erst mittelfristig realisierbar. Die Realität sieht einmal mehr anders aus: Laut den laufenden Planungsanträgen sollen mehr als 50% durch neue Kohlekraftwerke, knapp 40% durch Gas und Dampfkraftwerke (GuD) und lediglich 10% durch erneuerbare Energien abgedeckt werden. Hat Herr Gabriel das je öffentlich verkündet? Stört es Herrn Gabriel, dass viele Leute im Kohlebergbau wegen der Unmengen zu befördernder Kohle an Staublunge o.ä. erkranken und sterben? Stört es den Leser? Oder kann man nur beim Wort Radioaktivität ungut schlafen?

Der Stromverbrauch in Deutschland ist äquivalent zur Masse von 750 Kg Kohle. Im Durchschnitt pro Kopf und Jahr! Der gleiche Wert für Uran liegt bei ca. sieben Gramm – also einem Hunderttausendstel der Masse. Man muss sich das einmal konkret vorstellen, Faktor 100.000 weniger bedeutet, die Einwohnerzahl von Deutschland läge nicht bei 82 Mio. sondern bei 820. Es besteht in der Theorie sogar noch ein 25x größerer Ausbeutefaktor für Uran, wenn nicht nur, wie momentan, vier Prozent des Materials gespalten werden (aktuell ca. 800 000 KWh pro kg Uran). In absehbarer Zeit wird wahrscheinlich nur ein 10x größerer Ausbeutefaktor technisch realisierbar sein. Der Faktor für den Materialverbrauch zu Kohle läge dann bei einem Millionstel. Bezogen auf das Abfallvolumen ergibt der Vergleich von Kohle und Uran einen Wert von 600.000 cm³ (0,6 m³) für Kohle zu 0,4 cm³ für Uran pro Kopf und Jahr. Das ist das Volumen eines Schranks im Vergleich zu einer Aspirin-Tablette. Aufgrund der Unmengen an Kohleschlacke ist es unbegreiflich, wie dem der Vorzug vor der Kernenergie gegeben werden soll.
Zurück zur Radioaktivität: Radioaktive Strahlung entsteht, wenn ein Atom ein Teilchen aussendet und dadurch zu einem anderen Isotop zerfällt. Wenn ein Atomkern wie Plutonium gespaltet wird (3), entstehen üblicherweise zwei Spaltprodukte. Wenn diese Spaltprodukte jeweils durch ein bis fünf Zwischenprodukte zu einem stabilen Kern zerfallen, ist es dann nachvollziehbar, dass die integrale Dosis, also die zeitunabhängig aufsummierte Anzahl an Radioaktivität, sinkt? (Denn 2x5 < 13). Natürlich wird die Strahlendosis in kürzerer Zeit abgegeben. Denn von der Halbwertszeit lässt sich direkt auf die Dosisleistung schließen. Dies bedeutet: lange Halbwertszeit = geringe Strahlungsdosis (wenige Zerfälle pro Zeiteinheit), kurze Halbwertszeit = hohe Strahlungsdosis. Grund: Eine bestimmte gleiche Anzahl von radioaktiven Atomen emittiert früher oder später die gleiche Anzahl von Teilchen, da jedes radioaktive Atom davon früher oder später zerfällt. Die dafür benötigte Zeit lässt sich vereinfacht durch die zehnfache Halbwertszeit bestimmen. Dann sind ca. 99,9% der Atome zerfallen.
Was bedeutet das? Hochaktive Stoffe wie die Spaltprodukte zerfallen in kürzerer Zeit. Als repräsentativ dafür gilt Cäsium137 (Halbwertszeit 30 Jahre) und alle kurzlebigeren Stoffe. Der nahezu vollständige Zerfall dieser Stoffe (99,9%) zu stabilen Isotopen dauert also 300 Jahre. Für diese Zeit muss eine sichere Endlagerung garantiert werden. Die weniger aktiven Stoffe mit Halbwertszeiten von (mehreren) Hunderttausend Jahren sind auch dementsprechend schwächer radioaktiv und ein Risiko von kleinerer Dimension. Was ist also falsch oder problematisch daran, die Radioaktivität wieder in die Erde zu bringen, wo sie auch herkam? Und noch dazu an auf ihre Sicherheit geprüften Orten wie Gorleben?

Ein weiterer wichtiger Grund für die Stromerzeugung mit Kernkraftwerken ist die Mobilität (und nicht das CO2!). Unsere begrenzten Ressourcen müssen möglichst optimal genutzt werden, bis Alternativen erschlossen und technisch realisiert worden sind. Der Energieinhalt von Uran eignet sich optimal für die zentrale Stromerzeugung. Für Großbetriebe, wie z.B. die Bahn, ist eine (dezentrale) Versorgung durch erneuerbare Energien momentan weder sinnvoll noch möglich. Hier braucht es noch einige Jahrzehnte für eine Grundlast sichernde und flächendeckende Realisierung. Die einzigen Alternativen zur Kernenergie sind heute und in den nächsten Jahren de facto fossile Energieträger. Allerdings werden Öl, Gas und auch Kohle, die mittelfristig zur Herstellung von Treibstoff mittels Kohlevergasung verwendet werden kann, in Zukunft wesentlich wertvoller für die Mobilität werden. Eine weitere Nutzung der Kernenergie für mindestens 50-100 Jahre ist deshalb unverzichtbar.

Tobias Schwarz

Tobias Schwarz studiert im 11. Semester Kernenergietechnik an der Universität Stuttgart. Im StudiVZ engagiert er sich in der Gruppe „Atomkraft?! Ja, bitte – Get it back“.


(1) Es sei auf einschlägige Literatur zu den Stichwörtern „negativer Dampfblasenkoeffizient“ und „Temperaturkoeffizient“ verwiesen.
(2) Stichwort: Uran-Zerfallsreihe
(3) Stichwort: Absorption in Uran238.