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Ausgabe Exklusiv Online
Autor Johannes Kaufmann

"Glauben ohne Erfahrung ist naiv" - BUZe im Gespräch mit einem Sikh

"Glauben ohne Erfahrung ist naiv"

Atma Singh (geb. Florian Harazim) (26) hat vor einem Jahr nach zehn Semestern sein Studium der Freien Kunst an der HBK erfolgreich abgeschlossen. Er ist Angehöriger der Religion des Sikh Dharma und ist zur Zeit hauptberuflich als Yogalehrer in Braunschweig tätig.
Das Interview führte Johannes Kaufmann.


BUZe: Wie wurde innerhalb deiner Familie in deiner Jugend mit dem Thema Religion umgegangen?

Atma: Sehr frei. Meine Eltern [katholisch] haben mich nicht getauft, weil sie mir diese Entscheidung offen lassen wollten. Gleichzeitig haben sie aber auch meine Auseinandersetzung mit dem Thema Religion gefördert und mit mir darüber gesprochen. Dass ich gelegentlich mit zur Kirche ging, gehörte dazu, aber Bekehrungsversuche gab es nicht. Ich hatte eine Zeit lang auch einen ziemlichen Widerstand gegenüber Kirche und Christentum. Zwar haben mich die Geschichten aus der Bibel schon immer fasziniert, aber ich hatte Schwierigkeiten, einen tieferen Sinn darin zu sehen. Erst viel später habe ich mich durch das Yoga auch wieder dem Glauben meiner Eltern angenähert.

BUZe: Wie bist du zu deiner Religion gekommen und aus welchen Gründen?

Atma: Im Alter von 19 Jahren bin ich zuerst einmal zum Yoga gekommen. Und über das Yoga habe ich später das Sikh Dharma kennen gelernt.
Sikh Dharma bedeutet Schüler der Wahrheit. Ich habe schon immer gewusst, dass Wahrheit nichts theoretisch Erklärbares ist. Wahrheit muss man verwirklichen und zwar in sich selbst. Sikh Dharma ist ein Weg der Erfahrung, ein sehr lebendiger Weg, bei dem es darum geht, Gott in allem zu sehen. Es ist eine undogmatische Religion; eine friedliche Religion, die sich aber intensiv mit dem Thema Gewalt auseinandergesetzt hat; eine Religion, die nicht missioniert, in der ein Gottesbild vorherrscht, das nicht an eine bestimmte Form gebunden ist und in der es darum geht, seine Liebe zum Göttlichen in der Gemeinschaft zu leben.

BUZe: Woran genau glauben die Sikh? Was macht den Inhalt dieser Religion aus?

Atma: Wir glauben an den selben Gott, zu dem auch die anderen Monotheisten beten. Der wichtigste Weg zur Verwirklichung ist für uns das Singen und Meditieren mit spirituellen Texten und Mantras. Wie in den anderen Religionen gibt es ein heiliges Buch, das Siri Guru Granth Sahib. Und es gibt Menschen, die auf eine besondere Weise die ethischen Inhalte des Glaubens verkörpert haben: die zehn Gurus. Die sind zu vergleichen mit den Propheten des Christentums: weise Lehrer, auf die man sich als Beispiele bezieht. Der letzte dieser Gurus hat gesagt: Es gibt nur einen wahren Guru, und das ist das göttliche Wort. Damit hat er sich selbst relativiert und das göttliche Wort über sich gestellt.

BUZe: Wenn dieses Wort über die Gurus zum Menschen gekommen ist, hat er sich doch nicht relativiert, sondern sein Wort letztlich heilig gesprochen.

Atma: Im Gottesdienst wird das Buch befragt, indem man es an bestimmten Stellen oder auch zufällig aufschlägt. Das Buch hat dadurch eine autonome Präsenz wie eine eigene Wesenheit bekommen. Es hat aber keine menschlichen Fehler.

BUZe: Und was ist mit den Fehlern seiner Autoren?

Atma: Seine Autoren waren ganz besondere Menschen, die eine außergewöhnliche Reinheit besaßen und die das göttliche Wort empfangen und in eine Form gebracht haben. Das Buch enthält übrigens auch Texte von Lehrern aus anderen Traditionen wir dem Sufismus [Mystiker des Islam] und von anderen Mystikern.

BUZe: Das ist der Vorteil einer so jungen Religion. Würdest du sagen, dass der Sikhismus damals vor ca. 500 Jahren letztlich als ein Synkretismus aus den in Indien vorherrschenden Religionen des Hinduismus und des Islams entstanden ist?

Atma: Geschichtlich wird das sicherlich häufig so ausgedrückt. Aber man wird dieser Religion nicht gerecht, wenn man sie darauf reduziert. Sicherlich hat Guru Nanak, der Gründer des Sikh Dharma, vor dem Hintergrund der Konflikte in Indien zwischen Hindus und Moslems einen Weg aufzeigen wollen, wie man die gemeinsame Essenz beider Religionen wiederfinden kann. Aber trotzdem ist Sikh Dharma mehr als die Summe dieser beiden Religionen.

BUZe: Im Sikhismus gibt es keine Heiligen oder Priester, die zwischen Gläubigen und Gott vermitteln. Die Möglichkeit zur Erleuchtung steckt in jedem Einzelnen. Führt das nicht zu Widersprüchen, wenn der Einzelne auf seinem individuellen Weg zu Gott sich von den Lehren der Gurus entfernt?

Atma: Es gibt natürlich eine Evolution innerhalb der Religion. Denn das Bewusstsein der Menschen auf Erden entwickelt sich weiter. Und schließlich ist die Religion ein Konstrukt, das vom Menschen geschaffen wurde, das aber immer den gleichen Zweck hat, nämlich die eine göttliche Essenz in der Welt zu repräsentieren. Wenn also jemand eine tiefe Verbindung zu Gott hat und dadurch inspiriert eine neue Religion gründet, dann steht das nicht im Widerspruch zum Sikh Dharma. Denn Sikh sein bedeutet, aus der Wahrheit heraus zu leben, und es ist immer ein und dieselbe göttliche Wahrheit, die allem zugrunde liegt. Viele Menschen aus den verschiedensten Religionen haben unterschiedliche Zugänge zu dieser Wahrheit.

BUZe: Bedeutet das, dass der Sikhismus nicht exklusiv ist, dass man auch als Christ gleichzeitig Sikh sein kann?

Atma: Theoretisch gibt es da keinen Widerspruch, denn es geht ja um den selben Gott. Aber ich glaube, es ist wichtig, sich für einen Hauptfokus zu entscheiden. Es ergibt keinen Sinn, heute in der Bibel zu lesen und morgen im Sri Guru Granth Sahib und dann zu überlegen, woran man sich halten sollte. Aber man muss immer unterscheiden zwischen dem Fahrzeug und dem Ziel. Das Fahrzeug ist die Religion. Doch das Ziel, die Verwirklichung der göttlichen Essenz, ist transzendental und ewig, die Religion hingegen ist relativ.

BUZe: Wie gelingt es, bei all dieser Beliebigkeit die Einheit zu bewahren – gerade wenn man bedenkt, dass sich die New Age-Bewegung nur zu gern auf fernöstliche Weisheiten stürzt? Wie kann das Ganze ohne Deutungsinstanz, ohne Priester und ohne Dogmen, zusammengehalten werden?

Atma: Es gibt immerhin die Lehre aus dem heiligen Buch.

BUZe: Aber die kann ohne Schutz doch dann für jede esoterische Patchwork-Religion zurechtgestückelt werden.

Atma: Missbrauch von religiösen Inhalten kann nie ausgeschlossen werden. Dadurch, dass die Lehrer selbst ihre Erkenntnisse niedergeschrieben haben, ist jedoch das Bestmögliche zum Schutz der Lehre getan worden. Außerdem wird im Sikh Dharma die Reinheit des Wortes betont: Der Leser soll das Wort nicht durch seine persönliche Meinung verfälschen. Natürlich entstehen dabei verschiedene Meinungen, aber die eigentliche religiöse Praxis besteht nicht im Diskutieren, sondern im Versuch, über die Meditation einen direkten Zugang zu bekommen. Die Menschen, die wirklich einen tiefen Zugang durch die Meditation gefunden haben, sind auch in der Lage, die Essenz hinter den Worten der Lehre zu verstehen und weiterzugeben. Solche Menschen, die nicht nur Wissen besitzen, sondern auch den Glauben verwirklichen, sind absolut notwendig in jeder Religion. Es gibt zwar keine Priester im Sikh Dharma, wohl aber spirituelle Lehrer, die von Natur aus eine bestimmte Tiefe, eine Erleuchtung, erreicht haben.

BUZe: Wer definiert, was Missbrauch ist? Das Guru Granth Sahib ist in einer sehr poetischen und metaphorischen Sprache verfaßt. Aus solchen Texten kann je nach Perspektive sehr viel herausgelesen werden. Wie wird verhindert, dass die Auslegung vollkommen zerfasert, wenn es kein regelnde Instanz gibt?

Atma: Wir glauben daran, dass die Wahrheit selbst nicht missbraucht werden kann. Wer das versucht, zieht schlechtes Karma auf sich und wird daran zugrunde gehen. Die Wahrheit ist absolut, ich kann sie erkennen, aber als Mensch ist es nicht meine Aufgabe, sie zu beschützen. Dafür sind meine Fähigkeiten viel zu begrenzt. Mir persönlich ist es sehr wichtig, einen spirituellen Lehrer zu haben, der Selbstverwirklichung besitzt und der mit hilft, wenn ich Passagen in den Schriften nicht verstehe. Rational ist das schwer zu erklären, weil die Weisheit der Lehrer nichts mit Wissen zu tun hat, sondern mit einer inneren Erkenntnistiefe in Folge ihrer Meditation.

BUZe: Ich frage mich nur, woher ich wissen kann, wann ich die Wahrheit missbrauche, wenn die Wahrheit nirgends definiert ist.
Etwas ganz anderes: Der Sikhismus war ursrprünglich eine aufklärerische Bewegung, die sich gegen Aberglauben und unsinnige Rituale richtete. Auf deiner Homepage www.kundaliniyoga-braunschweig.de bin ich über Numerologie-Kurse gestoplert. Wie passt das zusammen? Der Sikhismus betont die Wahrheit durch Erfahrung. Numerologie kann man aber sicher nicht als Erfahrungswissenschaft oder überhaupt als Wissenschaft bezeichnen.


Atma: Ich mache täglich die Erfahrung der Wahrheit der Numerologie.

BUZe: Es steckt demnach absolute Wahrheit in einem Geburtsdatum, das von der Kalenderzählweise einer Kultur abhängig, letztlich also quasi willkürlich ist?

Atma: Wenn es eine absolute Wahrheit gibt, dann hat sie alles geschaffen, dann gibt es auch so etwas wie Zufall nicht. Es ist also auch kein Zufall, dass ich an einem bestimmten Datum in einem bestimmten Kalendersystem geboren wurde. Dann bleibt nur die Frage, wie ich einen Zugang zu dieser Wahrheit bekommen kann. Alle esoterischen Systeme und Religionen sind ein Versuch, einen Einblick in die tiefere Wahrheit der Schöpfung zu gewinnen. Numerologie ist ein Weg. Sie wird häufig sehr oberflächlich betrieben, auf Glückszahlen und dergleichen beschränkt. Der tiefere Sinn der Numerologie aber besteht darin, die Gesetzmäßigkeiten zu verstehen, auf denen alles beruht. Die gleichen Wissenschaftler, die Numerologie als Aberglaube abtun, benutzen ja selbst Zahlen, weil sie zu der Erkenntnis gelangt sind, dass sich das Leben nicht weiter abstrahieren lässt als auf Zahlen. Die Zahlen sind die abstrakte Essenz der Schöpfung. Daneben haben sie auch eine mystische Funktion, die nicht rational und so nah am Leben ist, dass man sie gar nicht bemerkt. Einsamkeit hat beispielsweise mit der Qualität der Eins zu tun. Das ist eine andere Erfahrung als unser Gespräch zu zweit, eine andere Qualität. Numerologie hat sehr direkt mit der Erfahrung des Lebens zu tun.

BUZe: Bist du der Meinung, dass die Zahlen diese Eigenschaften, die du ihnen zuschreibst, von sich aus mitbringen? Mathematik ist eine Schöpfung des Menschen, die jede Menge Zahlen enthält, für die es in der Natur keine Entsprechung gibt.

Atma: Welche Zahl hat in der Natur keine Entsprechung?

BUZe: Imaginäre, komplexe und irrationale Zahlen. An letzteren sind bekanntlich schon die Pythagoräer verzweifelt.

Atma: Jetzt wird’s kompliziert. Die Frage ist: Haben wir die Zahlen geschaffen oder haben die Zahlen uns geschaffen? Wir sagen, die Zahlen haben uns geschaffen. Du kannst dir natürlich Theorien ausdenken oder bestimmte Meinungen vertreten und andere ablehnen. Aber auch du bist irgendwann gezeugt worden. Es gab zwei Zellen, die sich vereinigten, und später haben sie sich immer wieder geteilt. Das ist nur möglich, weil bestimmte Zahlenqualitäten schon da waren: die Eins und die Zwei.

BUZe: Ich glaube, darüber könnten wir uns jetzt noch lange streiten, aber wir entfernen uns vom Thema Religion. Ist Numerologie Bestandteil des Guru Granth Sahib?

Atma: Sie wird nicht explizit erwähnt. Aber bestimmte Mantren in dem Buch lassen sich in Zahlensequenzen übersetzen.

BUZe: Welche vermutlich wiederum von sich aus darin enthalten sind und nicht von außen hineingetragen wurden.
Was ist denn Aberglaube in der Vorstellung der Sikh? Elektromagnetische Felder (Auren), die unsere Körper aussenden und die unsere Umwelt beeinflussen können, so dass wir beispielsweise weniger Unfälle erleiden, gehören deiner Seite zufolge nicht dazu. Wissenschaftlich betrachtet, dürfte die Zuordnung eindeutig sein.


Atma: Damit gibst du von dir selbst preis, dass du an die Naturwissenschaft glaubst. Doch letztlich bedient sich die Naturwissenschaft nur eines begrenzten Teils unserer Wahrnehmung, nämlich des Visuellen und des Rationalen, das hauptsächlich von der linken Gehirnhälfte gesteuert wird. Damit kann erwiesenermaßen nur ein kleiner Teil der Realität erfasst werden. Deshalb betont die Naturwissenschaft ja selbst die Relativität ihrer Erkenntnisse. Das ist auch ein Grund, warum viele Naturwissenschaftler gegenüber religiösen oder esoterischen Erkenntnissen sehr misstrauisch sind. Trotzdem wurde ein bedeutender Teil der wirklich großen Wissenschaftler inspiriert durch spirituelle Texte oder durch direkte Meditation.
Aberglaube bedeutet, etwas Relatives für absolut zu halten. Viele Menschen klammern sich zu sehr an die äußere Form ihrer religiösen Riten, Symbole und Idole und vergessen die eigentliche Essenz, für die sie stehen. Guru Nanak kam in die Welt, um uns daran zu erinnern, dass hinter all dem dieselbe Essenz steht, und dass sich in ihr alle äußeren Widersprüche auflösen.

BUZe: Das wirkt auf mich widersprüchlich: Einerseits sind die Sikh der Wissenschaft zugeneigt und versuchen, das Wirken der Schöpfung in den Naturgesetzen zu sehen. Anders als in den anderen Religionen ist Gott also auch wissenschaftlich erfahrbar. Auf der anderen Seite finde ich einen unwissenschaftlichen Umgang mit Begriffen wie Energiefeld oder Schwingung.

Atma: Wir Sikh sind den rationalen Erkenntniswegen gegenüber aufgeschlossen. Ihr Nutzen für die Menschheit ist unbestritten. Aber es ist auch wichtig, naturwissenschaftliche Erkenntnisse nicht absolut zu setzen. Nur weil etwas wissenschaftlich nicht erwiesen ist, muss es deshalb nicht unwahr ist. Es gibt die Möglichkeit, Dinge am eigenen Körper durch die Sinne und auch auf tieferer Ebene zu erfahren, die wissenschaftlich nicht erwiesen sind.

BUZe: Deine eigene Erfahrung hat dir also bestätigt, dass die Veränderung deiner Aura Einfluss auf deine physische Umwelt nimmt?

Atma: Ja. Das hat zu tun mit der Wissenschaft des Yoga – einer Erfahrungswissenschaft, die über das Rationale hinausgeht. Im Yoga gibt es sehr tiefgehendes Wissen über die verschiedenen Teile des menschlichen Wesens. Einer dieser Wesensteile ist die Aura, ein elektromagnetisches Energiefeld, das den Körper umgibt und welches auch messbar ist. Es ist ein Raum, in dem gewisse psychomagnetische Frequenzen, also Gedanken, wirken. Wir nennen dies das magnetische Feld, weil darin ein Magnetismus wirkt, der bestimmte Dinge anzieht oder abstößt. Das ist ein Magnetismus, der aufgrund seiner Feinheit bisher noch nicht errechnet oder gemessen werden konnte. Durch Yogazechniken kann die Aura harmonisiert werden und sich ausdehnen, sodass diese Fähigkeit automatisch zunimmt.

BUZe: Zurück zur Religion: Du hattest vorhin gesagt, die Sikh glauben an einen Gott ohne Form, der in der Beobachtung der Natur erfahrbar ist. Wie könnt ihr dem Formlosen Eigenschaften zuschreiben? Woher weißt du, dass es ein liebender Gott ist, wenn Liebe nun nicht gerade eine primäre Kraft in der Natur ist?

Atma: Das schwierige bei einem Gottesbild ist immer, dass man etwas beschreibt, das nicht beschrieben werden kann. Das ist paradox. Aber auch die Wahrheit ist paradox. Immer wenn ich entweder oder sage, blende ich einen Teil der Realität aus. Wenn ich mich dem Paradox aber stelle, nämlich in der direkten Erfahrung, wo Gegenteile gleichzeitig wahr sein können, öffnet sich eine tiefere Ebene. Woher ich weiß, dass Gott ein liebender Gott ist? Ich weiß es aus der Erfahrung in meinem eigenen Herzen. Das ist kein wissenschaftliches, messbares Wissen. Es wäre nicht Liebe, wenn es sich messen ließe.
Man muss die Möglichkeit der Existenz Gottes zulassen. Ich kann entweder sagen, solange mir Gott nicht bewiesen ist, glaube ich nicht an ihn. Oder ich weiß nicht, ob es ihn gibt, aber ich springe – ins Leere. Und wenn es ihn gibt, wird er mich auffangen. Das ist ein Schritt, der Mut erfordert – Mut, offen zu sein für die Erfahrung. Das Paradoxe ist, dass wir den Beweis fordern, bevor wir springen, doch wenn wir den Mut zu Springen nicht haben, werden wir den Beweis niemals erfahren.

BUZe: Das Sikh Dharma ist keine Religion der rationalen, philosophischen Debatte. Ähnlich wie bei den Mystikern der anderen Religionen steht die spirituelle Erfahrung im Mittelpunkt. Kann dein Glauben auch einem Skeptiker wie mir etwas bieten, der noch nie spirituelle Erfahrungen gemacht hat und damit daher nichts anfangen kann?

Atma: Guru Nanak hat gesagt, dass es keinen Sinn hat, über die absolute Wahrheit zu diskutieren. Es wäre vergeblich. Was du brauchst, ist nicht Glaube, denn Glaube ohne Erfahrung ist naiv. Aber ist es nicht leidvoll, unentwegt alles anzuzweifeln? Wenn dir bewußt wird, wie leidvoll das ist, bist du vielleicht bereit, das ultimative Experiment zu wagen: Ein Experiment, das erfordert, deine eigene Meinung zu opfern, um endlich zu erfahren, ob es Gott gibt oder nicht, und in dem du gleichzeitig der Wissenschaftler und das Versuchsobjekt bist.
Gott ist überall. Wenn wir ihn nicht sehen, liegt das an unserer eigenen Blindheit. In unserem Sadhana [täglichen spirituellen Übungen] begeben wir uns in eine rezeptive Haltung. Dabei geht es darum, den eigenen Verstand loszulassen. Dadurch ist es leichter möglich, den göttlichen Segen zu empfangen, denn Gott kann nicht bewiesen werden.

BUZe: Um Gott zu erleben, muss ich also meinen Verstand ausschalten. Wenn ich das nicht kann oder will, wird es mir nicht gelingen, das Initialerlebnis zu machen, das die Menschen zum Sikhismus finden lässt?

Atma: Dieses Erlebnis ist bei jedem anders, denn jeder Mensch entwickelt sich individuell. Natürlich gibt es bestimmte Riten, aber die haben keine Bedeutung, wenn es nicht aus dem Herzen kommt. Die Initiation läuft im Inneren des Einzelnen ab. Das muss nicht immer eine blitzartige Erleuchtung sein. Manchmal sind es kleinere Erlebnisse, die dich auf den Weg bringen, und oft es das auch mit Leid verbunden. Oft sucht man in Leid oder in Krisen einen tieferen Sinn und verspürt dabei in sich eine Sehnsucht, die den Weg weist.

BUZe: Gibt es Menschen, die dafür einfach nicht empfänglich sind?

Atma: Natürlich, vielleicht sogar die meisten Menschen. Wer nicht nur suchen, sondern auch finden will, muss selbst eine gewisse Offenheit mitbringen. Und das ist etwas, das nicht erzwungen werden kann oder sollte. Wir missionieren nicht.

BUZe: Wenn diese Erleuchtung oder die spirituelle Erfahrung ein Geschenk ist, haben dann manche einfach Pech gehabt? Oder bin ich selbst schuld, dass ich Gottes Liebe bisher nicht erfahren durfte? Müsste ein liebender, gerechter Gott nicht jedem die Chance geben, zu ihm zu finden?

Atma: Mit einer solchen Frage solltest du dich am besten direkt an Gott wenden. Wenn du es ihm so sagen könntest, wenn du ihn ansprichst: Gott, du hast mich verlassen. Warum zeigst du dich mir nicht? Dann wärst du bereits in der gleichen Stimmung wie all die großen Lehrer des Sikh Dharma.

BUZe: Dafür müsste ich doch erst einmal davon ausgehen, dass es ihn gibt.

Atma: Sikh heißt Schüler der Wahrheit. Das bedeutet, dass man nach der Wahrheit suchen muss. Du suchst auch nach der Wahrheit.

BUZe: Das tut wohl jeder Mensch in irgend einer Weise.

Atma: Und so gesehen ist auch jeder Mensch Sikh. Verwirklichung erreicht man, wenn man so viel gesucht hat, dass man erkennt, dass man die Wahrheit durch die Suche nicht findet. Und dann hört man auf, zu suchen, und in diesem Moment findet man. Das ist das Mysterium.

BUZe: Dann könnte ich mir die Suche ja gleich sparen. [lacht]
Kommen wir zu einem ganz anderen Thema: Zehn Prozent des indischen Militärs wird von Sikh gestellt. Unter den Offizieren sind es sogar 20 Prozent. Die Geschichte der Sikh ist voller gewalttätiger Auseinandersetzungen. Gibt es eine offizielle Einstellung deiner Religion zu Krieg und Gewalt?


Atma: Die ersten Lehrer des Sikh Dharma waren absolute Pazifisten. Sie haben sich immer für den Frieden eingesetzt, auch mit dem eigenen Leben. Aber ab einem bestimmten Punkt reichte das nicht mehr aus. Das war zu einer Zeit, als Indien von islamischen Herrschern regiert wurde, die mit grausamer Gewalt gegen alle aus ihrer Sicht Ungläubigen vorgegangen sind. Damals haben die friedvollen und zurückgezogenen Sikh sich gerüstet, um sich selbst und Angehörige anderer verfolgter Glaubensrichtungen zu verteidigen. Dabei haben es die Sikh im Laufe der Jahre in ihren kriegerischen Fertigkeiten sehr weit gebracht. Sie wurden zu einer Art Kriegerkaste, und sie werden auch heute noch als Krieger angesehen. Es geht aber niemals um den Kampf für egoistische Zwecke. Ein Sikh soll nicht von sich aus das Schwert ergreifen. Aber in dem Moment, wo der Frieden und das Leben der eigenen Familie und das anderer Menschen bedroht ist, muss man sich und andere verteidigen. Krieger und Pazifist klingt nach einem Widerspruch. Doch im Grunde ist es keiner. Denn bin ich wirklich ein friedliebender Mensch, wenn der Folterung anderer Menschen zusehe? Was bedeutet es, sich wirklich für den Frieden einzusetzen? Meistens bedeutet es, nichts zu tun, aber manchmal bedeutet es, zur Waffe zu greifen.
Mit diesem Thema hat man sich im Sikhismus intensiv beschäftigt. Mit Gewalt wird bei uns sehr bewußt umgegangen. Beispielsweise ist es üblich, ein Schwert bei sich zu tragen – als Symbol für die Unterscheidungskraft, aber auch für die Bereitschaft, zu kämpfen.

BUZe: Wahrscheinlich wird in allen Kulturen um die Definition ein gerechten Krieges gerungen. Ist es nicht sehr schwierig, festzulegen wann von notwendiger Verteidigung gesprochen werden kann?

Atma: Natürlich ist das schwierig. Das ist eines der essentiellen Themen der Menschheit.

BUZe: Um ein Beispiel zu nennen: 1984 wurde die indische Premierministerin Indira Ghandi von ihren beiden Sikh-Leibwächtern ermordet. Würdest du das als Verteidigung bezeichnen? Zuvor hatten indische Truppen einen Tempel gestürmt, in dem sich Sikh-Separatisten verschanzt hatten.

Atma: Natürlich ist das keine Verteidigung und natürlich ist das nicht im Sinne des Sikh Dharma. Religionen bestehen letztlich aus Menschen, und Menschen machen Fehler. Vom Standpunkt der Lehre aus betrachtet, ist es grundsätzlich verboten, den ersten Schlag zu führen.

BUZe: Genau hier sehe ich das Problem. Bei der Erstürmung des Goldenen Tempels sind hunderte Sikh ums Leben gekommen. Man könnte also meinen, der erste Schlag sei vom indischen Staat ausgeführt worden. Aus dieser Perspektive erschien den Leibwächtern ihre Tat vermutlich als notwendige Verteidigung ihrer Glaubensgenossen und damit in Übereinstimmung mit den Lehren ihrer Religion.

Atma: Hierbei handelt es sich aber vor allem um einen politischen Konflikt. Letztlich muss man sich vor sich selbst und nach dem Tod vor dem göttlichen Recht rechtfertigen. Ich kann mir da kein abschließendes Urteil erlauben, und ich habe mich auch bisher nicht ausreichend mit dem Thema auseinandergesetzt.

BUZe: Gibt es in deiner Religion diese Vorstellung eines Gerichtes nach dem Tod? Gibt es Überhaupt Aussagen zum Leben nach dem Tod?


Atma: Wir glauben daran, dass die Seele nach dem Tod weiterwandert – also reinkarniert. Man gelangt dann in der Regel in höhere Schwingungsebenen jenseits von Raum und Zeit. Von dort aus kann man sein vorangegangenes Leben überblicken und seine nächste Inkarnation wählen.

BUZe: Und gibt es ein Urteil – beispielsweise in Form von Karma wie im Buddhismus?

Atma: Ja, das Gesetz des Karma ist für alle Menschen gleich. Das ist nicht unbedingt eine Glaubensfrage, sondern eine ganz praktische Erkenntnis: Karma bedeutet ja nichts anderes, als dass jede Handlung eine Wirkung hat, die letztlich auf den Verursacher zurückfällt. Dementsprechend beeinflusst die Art, wie ich lebe, wann, wo und in welcher Form ich reinkarniere.
Aber wir betrachten das Gesetz des Karma nicht als letzte Instanz, sondern glauben an die Möglichkeit, sich aus diesem ewigen Kreis durch eigene Bemühungen zu befreien. Das nennt man Jivanmukti – befreite Seele. Das ist der Zustand, in dem man zwar körperlich an die Welt gebunden, aber seelisch befreit ist. Man erkennt seine eigene ewige Natur.

BUZe: Ich bin bei meiner Recherche auf widersprüchliche Aussagen gestoßen. Manchmal hieß es, die Sikh glauben an die Wiedergeburt, manchmal jedoch, man stelle im Sikh Dharma keine Spekulationen über das Leben nach dem Tod an, weil es sich um eine Religion des Jetzt handle.

Atma: Da die Wahrheit paradox ist, enthält das heilige Buch auch gegenteilige Aussagen, sodass man auf Dauer die Wahrheit zwischen den Extremen findet. Einerseits stimmt es natürlich, dass die Seele nach dem Tod des Körpers weiterlebt. Aber andererseits bringt es auch nichts, über Details zu spekulieren, weil es im Grunde niemand ganz genau weiß, was passieren wird. Es gibt keine Garantie. Es ist gut, sich daran zu erinnern, dass all unsere Taten und Gedanken Konsequenzen haben – in dieser Welt und in der nächsten – wie auch immer sie aussehen mag. Wie es weitergeht hängt also davon ab, wie ich im Hier und Jetzt lebe. Wer Spekulationen über die Zukunft anstellt, lebt nicht voll in der Gegenwart. So kann man sein wahres Selbst nicht verwirklichen. Daher wird zwar von der Tatsache der Reinkarnation gesprochen, gleichzeitig aber davor gewarnt, sich zu sehr davon faszinieren zu lassen und sich in den Diskussionen darüber zu verlieren.

BUZe: Du hast mehrfach den paradoxen Charakter der Wahrheit angesprochen. Wird es dadurch nicht etwas beliebig? Wenn jede Aussage auch ihr Gegenteil enthält, immunsiert man sich gegen Kritik, weil nichts (an)greifbar ist. Wissenschaftliche Theorien beispielsweise müssen stets kritisierbar sein.

Atma: Ja es stimmt – die absolute Wahrheit ist nicht nur paradox, sondern auch immun gegen Kritik – sonst wäre sie nicht absolut. Wir sagen aber nicht, dass wir die absolute Wahrheit gepachtet hätten. Niemand kann sie besitzen. Sie ist unbesiegbar. Wir sagen lediglich, dass es unser Ziel ist, aus dieser absoluten Wahrheit heraus zu leben.
Wenn die Wissenschaft auf die Möglichkeit der Widerlegbarkeit beharrt, beweist sie damit ihre eigene Relativität. Nun kann man natürlich daran zweifeln, dass es etwas Absolutes gibt. Im Grunde erklärt sich das aber von selbst, denn das Wort „relativ“ ergibt ohne das Gegenteil des Absoluten keinen Sinn. Wenn die Wissenschaft die Relativität ihrer Erkenntnisse eingesteht, enthält das indirekt das Bekenntnis zu etwas Absolutem.
Aber das ist letztlich die Schlussfolgerung jedes spirituellen Systems. Dass man am Ende zu dem Satz kommt: So ist es nun einmal.

BUZe: Und damit gelangt tatsächlich jede Diskussion an ihr Ende. Ich danke für das Gespräch.